In den Fußnoten sind Fachbegriffe erläutert.

Der ehemalige Fabrikarbeiter Friedrich Müller, der inzwischen aufgrund der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit verloren hat, beschreibt 1930 in der "Arbeiter-Illustrierten-Zeitung"1 seine persönliche Situation:

Du hast eines Tages den berühmten „blauen Brief"2 erhalten; man legt auf deine Arbeitskraft kein Gewicht mehr, und du kannst dich einreihen in die große „graue Masse" der toten Hände und überflüssigen Hirne, denn die Maschine ersetzt dich, und jüngere Arbeitskräfte leisten für weniger Geld deine Arbeit. [...]

Was dir zunächst als persönliches Schicksal und individuelles Unglück erscheint auf dem Arbeitsnachweis (= Erfassungsstelle für Arbeitslose) wo du dich zunächst melden musst, damit du später (nach der zufriedenstellenden Beantwortung von über 300 Fragen auf X Fragebögen) die Erwerbslosenfürsorge3 in Anspruch nehmen kannst, auf dem Arbeitsnachweis merkst du: wie dir geht es tausenden. [...] Hier beginnt dein Leidensweg. Man fragt dich aus, wo du in den letzten vier Jahren beschäftigt warst, du musst deinen Lebenslauf schreiben, den Besuch der Schulen angeben, schreiben, warum du entlassen worden bist usw.

[...] Nach peinlicher Befragung erhältst du deine Stempelkarte und gehst damit los zur Erwerbslosenfürsorge. Und hier setzt man dir mit Fragen zu, bis du keinen trockenen Faden mehr am Leibe hast. Dass du lebst, glaubt man dir noch, aber wo du in den letzten drei Jahren gelebt hast, musst du aufgrund polizeilichen Stempels und amtlicher Unterschrift nachweisen. [...] Normalerweise hast du drei bis vier Tage zu tun, um alle Papiere beisammen zu haben, und dann kriegst du Unterstützung? So schnell geht das nicht! Erst wenn dein Antrag geprüft und von X Beamten unterschrieben ist, kannst du im günstigsten Fall nach vierzehn Tagen dein erstes Geld holen. [...]

Deine Unterstützung richtet sich nach deinem Arbeitsverdienst in den letzten 26 Wochen. Aber ganz gleich, ob du 8,80 Mk4 oder 22,05 Mk (Höchstsatz) als Lediger pro Woche erhältst, die paar Pfennige sind zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. 26 Wochen darfst du stempeln5 und Unterstützung beziehen, dann steuert man dich aus, und du kommst in die Krisenfürsorge, deren Sätze erheblich niedriger sind. Und nach weiteren 26 oder 52 Wochen erhältst du gar nichts mehr und gehörst zu den gänzlich Unterstüt-zungslosen.

Quelle: Wochenschau für politische Erziehung, Sozial- und Gemeinschaftskunde, 48 (1997) 1, S. 33

Anmerkungen von den Autoren dieses Kurses:

1 Zeitung mit Illustrationen, Fotografien und Karikaturen, um komplexe politische Themen für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen.

2 Begriff stammt aus dem Schulsystem: Der Brief hat eine ernste Bedeutung und informiert über die Nichtzulassung zu einer Prüfung.

3 Maßnahmen und Unterstützungsleistungen, die darauf abzielen, Menschen, die erwerbslos sind, in unterschiedlichen Aspekten ihres Lebens zu helfen

4 Die Währung der Weimarer Republik, die während der Zeit von 1919 bis 1923 existierte, war die "Deutsche Mark" (Mark oder Mk).

5 In verschiedenen Branchen kann "stempeln" bedeuten, dass etwas mit einem Stempel oder einer Markierung versehen wird, um es zu kennzeichnen oder zu zertifizieren.

Zuletzt geändert: Donnerstag, 25. April 2024, 08:53
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