Rede des Reichsaußenministers Gustav Stresemann zum deutschen Beitritt zum Völkerbund am 10.9.1926

Nachgesprochener Auszug:

 

 



Textversion:

Deutschland tritt mit dem heutigen Tage in die Mitte von Staaten, mit denen es zum Teil seit langen Jahrzehnten in ungetrübter Freundschaft verbunden ist, die zum anderen Teil im letzten Weltkrieg gegen Deutschland verbündet waren. (…) Die grundstürzenden Ereignisse eines furchtbaren Krieges haben die Menschheit zur Besinnung über die den Völkern zugewiesenen Aufgaben gebracht. Wir sehen in vielen Staaten den Niederbruch wertvollster, für den Staat unentbehrlicher geistiger und wirtschaftlicher Schichten. Wir erleben die Bildung von neuen und das Hinsinken von alten Formen der Wirtschaft. Wir sehen, wie die Wirtschaft die alten Grenzen der Länder sprengt und neue Formen internationaler Zusammenarbeit erstrebt. Die alte Weltwirtschaft hatte für ihre Zusammenarbeit keine Satzungen und Programme, aber sie beruhte auf dem ungeschriebenen Gesetz des traditionellen Güteraustausches zwischen den Erdteilen. Ihn wiederherzustellen, ist unsere Aufgabe. (…)

Wichtiger aber als alles materielle Geschehen ist das seelische Leben der Nationen. Eine starke Gärung der Gedanken kämpft unter den Völkern der Erde. Die einen vertreten das Prinzip der nationalen Geschlossenheit und verwerfen die internationale Verständigung, weil sie das national Gewordene nicht durch den allgemeinen Begriff der Menschheit ersetzen wollen. Ich bin der Meinung, daß keine Nation, die dem Völkerbund angehört, dadurch ihr nationales Eigenleben irgendwie aufgibt. Der göttliche Baumeister der Erde hat die Menschheit nicht geschaffen als ein gleichförmiges Ganzes. Er gab den Völkern verschiedene Blutsströme, er gab ihnen als Heiligtum ihrer Seele ihre Muttersprache, er gab ihnen als Heimat Länder verschiedener Natur. Aber es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinanderkehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen. Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt und damit, über die Grenze des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben vermag, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind. (…)

Die politische Auswirkung dieser Gedanken liegt in einer inneren Verpflichtung der Staaten zu gemeinsamem, friedlichem Zusammenwirken. Diese innere Verpflichtung zu friedlichem Zusammenwirken besteht auch für die großen moralischen Menschheitsfragen. Kein anderes Gesetz darf für sie gelten als das Gesetz der Gerechtigkeit. Das Zusammenarbeiten der Nationen im Völkerbunde muß und wird dazu führen, auch auf diese moralischen Fragen im Völkerleben die gleiche Antwort zu geben. Denn das sicherste Fundament für den Frieden ist eine Politik, die getragen wird von gegenseitigem Verstehen und gegenseitiger Achtung der Völker. (…) Die deutsche Regierung ist entschlossen, diese Politik mit aller Entschiedenheit weiterzuverfolgen. Sie kann mit Genugtuung feststellen, daß diese Gedanken – anfangs in Deutschland heftig umkämpft – sich allmählich immer mehr das deutsche Volksbewußtsein erobert haben, so daß die deutsche Regierung auch für die große Mehrheit des deutschen Volkes spricht, wenn sie erklärt, daß sie sich an den Aufgaben des Völkerbundes mit voller Hingebung beteiligen wird. (…)

Von besonderer Bedeutung für die Festigung einer Friedensordnung zwischen den Völkern sind ferner die Bestrebungen, die sich auf die Abrüstung beziehen. Die völlige Abrüstung Deutschlands ist durch den Vertrag von Versailles als Beginn der allgemeinen Abrüstung festgesetzt worden. Möge es gelingen, einer allgemeinen Abrüstung in praktischer Arbeit näherzukommen und damit den Beweis zu erbringen, daß eine starke positive Kraft den großen Idealen des Völkerbundes schon jetzt innewohnt.

(…)

Deutschland wünscht mit allen Nationen, die im Völkerbunde und im Rate des Völkerbundes vertreten sind, auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens zusammenzuarbeiten.

Noch hat der Völkerbund sein Ziel nicht erreicht, alle Weltmächte in sich zu umfassen. (…)

Erst durch die Universalität wird der Bund vor jeder Gefahr geschützt, seine politische Kraft zu anderen Diensten als zu reinen Friedensdiensten einzusetzen. Nur auf der Grundlage einer Gemeinschaft, die alle Staaten ohne Unterschied in voller Gleichberechtigung umspannt, können Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit die wahren Leitsterne des Menschenschicksals werden.

Nur auf dieser Grundlage läßt sich der Grundsatz der Freiheit aufbauen, um den jedes Volk ringt wie jedes Menschenwesen. Deutschland ist entschlossen, sich in seiner Politik auf den Boden dieser erhabenen Ziele zu stellen. Für alle hier versammelten Völker gilt das Wort eines großen Denkers, daß wir Menschen uns zu dem Geschlecht bekennen, das aus dem Dunkel ins Helle strebt. Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe Freiheit, Friede und Einigkeit vollziehen, dann werden wir dem von uns allen erstrebten Ziele näherkommen. Daran freudig mitzuarbeiten, ist Deutschlands fester Wille.

Quelle: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0089_str&object=translation&l=de



Zuletzt geändert: Freitag, 17. Mai 2024, 20:20
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