Die Näherinnen

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Kurs: Ungleichheit Fashion (10-12)
Buch: Die Näherinnen
Gedruckt von: Guest user
Datum: Sonntag, 6. Oktober 2024, 01:10

Beschreibung

In diesem Buch erfährst du mehr über die Arbeitsumstände der Näherinnen.

1. Der Arbeistag einer Näherin

Zwei Überstunden pro Tag sind üblich, aber viele Arbeiterinnen machen weitere Überstunden und arbeiten teilweise bis zu 100 Stunden pro Woche, um einen das Überleben ihrer Familien annähernd sichernden Lohn zu erzielen.

Viele werden nach einem täglich vorgegebenen Produktionsziel bezahlt. Dieses ist so unrealistisch hoch, dass es die Näherinnen an einem normalen Arbeitstag von acht Stunden unmöglich erreichen können. Deshalb müssen sie Überstunden machen.

Aufgrund des enormen Arbeitsvolumens verlassen viele Befragten die Fabrik erst zwischen 20 und 22 Uhr, nach 12 bis 14 Stunden Arbeit. Viele brauchen dann noch eine Stunde für den Weg nach Hause, wo sie zusätzlich die Hausarbeit verrichten. Überdies machen viele Frauen Nachtschichten, etwa wenn die Verschiffung von Waren ansteht. Sie arbeiten dann bis Mitternacht ohne Unterbrechung und nur wenig Essen. Viele schlafen auf dem nackten Boden in der Fabrik, weil sie sich fürchten, nachts allein nach Hause zurückzukehren.

Weigern sie sich, Überstunden oder Nachtschichten zu machen, werden die Arbeiterinnen bestraft – z.B. wird ihnen der Lohn gekürzt oder die Krankschreibung verweigert.

Häufig werden die Näherinnen sexuell belästigt, gedemütigt und beschimpft, aus Scham reden die Frauen jedoch kaum darüber.

Auch kommt es immer wieder zu Fehlgeburten, weil schwangere Frauen keinen Schutz erhalten: Viele müssen auch im schwangeren Zustand stehend arbeiten, zusätzliche Pausen für stillende Mütter gibt es nicht.

Versuchen sich die Frauen zu organisieren, werden sie meist umgehend entlassen, weshalb nur ein kleiner Teil der Näherinnen gewerkschaftlich organisiert ist.


2. Frauenrechte und Frauendiskriminierung

Die von Naila Kabeer und auch anderen Soziolog_innen genannten Aspekte sind unbestreitbar, aber es gibt auch berechtigte Kritik an den Entwicklungsmöglichkeiten, die die Fabrikarbeit den Näherinnen im globalen Süden bietet.

Einen wichtigen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen hat die starke Konkurrenz der asiatischen Länder untereinander – Einkäufer können aufgrund ihrer Marktmacht Produktionsländer und Produzenten gegeneinander ausspielen. Es geht zu jedem Zeitpunkt darum, wer den multinationalen Konzernen die schnellste und flexibelste Produktion zu den geringsten Kosten anbietet.

In einer arbeitsintensiven Branche wie der Textil- und Bekleidungsindustrie wird dieser Kampf in erster Linie über die Kosten für den Faktor Arbeitskraft ausgetragen, also über niedrige Löhne, viele Überstunden und geringere Arbeits- und Umweltstandards. Die Beschäftigung von Frauen spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Die Fabrikbesitzer nutzen die gesellschaftlich schwächere Position der Frauen. Sie stellen diese ein, weil Frauen zu fügsameren und flexibleren Arbeitskräften erzogen wurden. Auf diese Weise wird gleichzeitig auch die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen weiter manifestiert. Oft sind Frauen am Arbeitsplatz Opfer sexualisierter Gewalt, die häufig als Machtmittel eingesetzt wird.

Frauen verdienen fast überall auf der Welt deutlich weniger, werden nach wie vor systematisch diskriminiert und bekommen auch in den Fabriken die schlechten bezahlten Tätigkeiten mit geringeren Aufstiegschancen. Die gehobenen Positionen werden meistens von männlichen Beschäftigten besetzt. Die besonderen Rechte von schwangeren Frauen oder jungen Müttern werden nur selten berücksichtigt. Häufig wird der gesetzlich vorgesehene bezahlte Mutterschaftsurlaub nicht gewährt, obwohl er den Frauen zusteht; ein Nachfragen kostet die Frauen oft ihre Arbeitsstelle.
Trotz aller Widrigkeiten gibt es jedoch immer mehr Frauen, die sich in Betriebskomitees oder Gewerkschaften organisieren und versuchen, die ungleichen und ausbeuterischen Arbeits-bedingungen zu bekämpfen. Dieser Kampf ist nicht nur wichtig für die Arbeiterinnen selbst, sondern auch für ihre Familien und die gesamte Gesellschaft eines Landes

Die Fabrikarbeit an sich ist also nicht die Lösung, um die Gleichberechtigung der Frauen im globalen Süden zu stärken. Nur faire Arbeitsbedingungen und gleiche Bezahlung beider Geschlechter können gesellschaftliche Gleichberechtigung ermöglichen. Die Arbeitsstelle in einer Fabrik reicht nicht aus, um die Lage der Frauen zu verbessern, es ist gleichzeitig wichtig, den Frauen selbst sowie ihrer Tätigkeit eine ausreichende Wertschätzung entgegen zu bringen.

Trotz aller Einschränkungen sind Frauen weltweit aktiv, um ihre Rechte einzufordern. Ein gutes Beispiel dafür, was Unternehmen tun können, um die Selbstorganisation von Frauen zu unterstützen, bietet das Anti-Harassment-Programm der Fair Wear Foundation (in Indien und Bangladesch). Dieses beruht auf Aufklärung, Stärkung und konkreter Hilfe: Die Arbeiter_innen werden in Trainings über ihre Rechte aufgeklärt, es werden Antidiskriminierungsrichtlinien für den Betrieb erarbeitet und Komitees aufgestellt sowie Helplines eingerichtet, an die sich die Beschäftigten mit Fragen oder konkreten Anliegen wenden können.

 


3. Näherinnen in Asien und Osteuropa

Die meisten Beschäftigten in der Bekleidungskonfektion Asiens sind weiblich. Heute liegt der Frauenanteil in China bei ca. 70 %, in Bangladesch bei 85 % und in Kambodscha sogar bei 90%.

Für Frauen bedeutet die Arbeit in den Fabriken Fluch und Segen zugleich. Historisch gesehen war und ist die Fabrikarbeit überall auf der Welt ein erster Schritt zu mehr Selbstständigkeit und Gleichberechtigung. Laut der bengalischen Sozialökonomin und Autorin Naila Kabeer stärkt die Bekleidungsindustrie die Rolle der Frauen in Bangladesch, da sie in hohem Maße zum Familieneinkommen beitragen. Kabeer betont, dass die Fabrikarbeiter_innen im Vergleich zu anderen Frauen zudem ihre Rechte besser kennen, sie aufgeklärter und kritischer sind. Die Arbeit erlaube ihnen den Weg aus der schlimmsten Armut, sie könnten ihren Kindern eine Schulbildung ermöglichen und erreichten selber eine größere Unabhängigkeit.

Auf der anderen Seite arbeiten die Frauen zu Hungerlöhnen unter oft unwürdigen Bedingungen an 6 Tagen die Woche häufig bis zu 10 bis 14 Stunden täglich und sind gleichzeitig für Familie und Haushalt verantwortlich.

Die Situation der Näherinnen in Osteuropa stellt sich deutlich anders dar als in Asien. In der asiatischen Bekleidungsindustrie arbeiten insbesondere junge Frauen mit zumeist nur geringer Schulbildung, die vom Land in die Städte wandern, um Arbeit zu finden, mit der sie sich und ihre Familien zuhause ernähren können.

In den osteuropäischen Betrieben sind überwiegend Frauen mittleren Alters tätig, die in der Regel eine längere Schulbildung genossen haben, zumeist über eine Berufsausbildung verfügen, nicht selten sogar über einen Universitätsabschluss. Diese Frauen arbeiten bereits seit vielen Jahren in der Bekleidungsindustrie.

Mit dem Auseinanderfallen des Ostblocks erfolgte zunächst eine starke Deindustrialisierung in den osteuropäischen Ländern. Ab Ende der 1990er Jahre entstanden viele kleine bis mittel-große Lohnnähereien, aber mit schlechten Arbeitsbedingungen.

Mit der Wirtschaftskrise 2008 und dem Erstarken der asiatischen Zulieferer schrumpfte die osteuropäische Bekleidungsindustrie wieder deutlich, wodurch sich die Arbeitsbedingungen weiter verschlechterten. So wurden z. B. die Näherinnen in Bulgarien als Folge der Krise in „unbezahlten Urlaub“ geschickt. Die Arbeitsplätze wurden teilweise ausgelagert.

Heute arbeiten viele Frauen in Heimarbeit als selbstständige Auftragnehmerinnen. Sie tragen das gesamte Risiko sowie die Kosten für ihre soziale Absicherung selber.

In allen osteuropäischen Ländern nutzten die Unternehmen so die Krise, um Arbeitsrechte zu missachten und Löhne erheblich zu drücken.